Neue Wege am Wildgerst

Zum zwanzigjährigen Jubiläum des AAC Basel 1938 nahmen zwei Mitglieder sprichwörtlich das Heft selbst in die Hand. Eine Jubiläumszeitschrift wurde publiziert, die Auflage ist uns heute nicht mehr bekannt. Das letzte Exemplar schlummerte Jahrzehnte im Archiv und wurde beinahe zufällig dieses Jahr leicht zerfleddert doch gut lesbar wieder entdeckt. Neben einem Rückblick, Berichten über die Hütten und dem 50km-Lauf im Jura findet sich ein eigenwilliger Tourenbericht. Dieser sei hier wiedergegeben, zur allgemeinen Erbauung und Ermahnung der heutigen AACler, nicht ohne Karte, oder heute Smartphone und GPS, in die Berge zu gehen:

Im prächtigen Panorama, das die Passhöhe des Brünig bietet, erblickt man jenseits des Aaretales zwischen Rosenlaui und Thunersee einen am Fusse stark bewaldeten Gebirgszug, dessen höchste Gipfel kaum 3000 m erreichen und mit ihren bis weit hinauf verteilten Weiden einen friedlichen Gegensatz bilden zu den schroffen Felstürmen der benachbarten Engelhörner einerseits und zu den leuchtenden Eiskanten der Wetterhörner andererseits. Etwa in der Mitte dieses Bergzuges liegt breit und flach der Wildgerst, der gegen Süden durch Täler und Mulden sanft zur grossen Scheidegg abfällt, während er gegen Norden stufenweise über waldumrandete, durch plötzliche Felsstufen unterbrochene Alpweiden in die steilen Felsabstürze am Brienzersee übergeht.

 Einmal mehr hatte Prisis „Citrone“ freudig schnaufend den Brünig erreicht, und einmal mehrt erfüllte uns das plötzliche Erscheinen der wunderbaren Aussicht mit stummer Begeisterung. Ueber 1000 m lag diesmal alles noch im Schnee; um die höchsten Gipfel und am Himmel hingen Wolkenfetzen. Eben durchdrangen die Strahlen der Abendsonne die schlafende Landschaft und zauberten die herrlichsten Farbenspiele aus dem Weiss und Grau der Berge und Wolken. Der Optimismus, der Prisi, Anderegg und mich bei schwankendem Wetterbericht aus Basel vertrieben hatte, schien absolut gerechtfertigt. Wir träumten an diesem Vorabend des Palmsonntags von einer wonnevollen Sulzfahrt vom Wildgerst ins Rosenlauital. Wir tauchten in das frühlingsgrüne Aaretal, um am Gegenhang mit surrendem Motor die Serpentinen der Rosenlauistrasse zu erklimmen. In „Zwigi“ blieb die „Citrone“ zurück, und wir setzten unseren Aufstieg als hundertprozentige Bergsteiger fort. Frühling und Winter kämpften hartnäckig um weisse und grüne Flecken, doch bald verschoben sich die Chancen eindeutig zugunsten des Winters. Auch das frühlingshafte Spiel des Lichtes in den Wolken hatte aufgehört, nach einem letzten Aufleuchten hatte sich die Sonne endgültig zurückgezogen, die Wolken ballten sich zusammen, ja es begann sogar zu schneien. In grauer Nacht erreichten wir die Skihütte auf der Schwarzwaldalp.

 

Am folgenden Morgen lag die ganze Welt wieder tief im Winter. Schon früh verliessen wir die Hütte; doch erst nach geraumer Zeit brachen die ersten Sonnenstrahlen über die in Nebelschwaden auftauchenden Engelhörner herein und hüllten Hänge und Spitzen in silberne Pracht. Nach kurzem Aufstieg durch ein enges Tal in eine hohe Mulde erblickten wir rechts den breit glänzenden Rücken des Wildgerst und links den scharfen Kamm des Faulhorns. Ueber Täler und Mulden ansteigend, erreichten wir bald die Lücke zwischen den beiden Gipfeln, wobei uns ein Felsband, das sich vom unteren Felspass her zum Gipfel hinzieht in dem immer trüber werdenden Wetter als Wegweiser diente. Kaum waren wir oben, fing es wieder an zu schneien, und kalte Winde strichen um die Felsen. Den Weg über einen leichten Schneegrat bis zum 100 m höher gelegenen Gipfel schenkten wir uns und gruben im Windschatten ein Schneeloch. Wir verzehrten unseren kargen Proviant und freuten uns auf die wunderbare Abfahrt durch leichten Pulverschnee auf harter Unterlage. Zwar waren Sicht und Aussicht ungefähr gleich Null, doch wer wollte sich dadurch die Freude auf eine Abfahrt vergällen lassen.

 

Gegen 10 Uhr begannen wir die Abfahrt, Anderegg als erster, wir dicht aufgeschlossen. Plötzlich war unser Führer verschwunden, und schon sahen wir ihn einige Meter tiefer wieder aus einer Gwächte auftauchen. Da für ihn die Rückkehr zu uns äusserst mühsam gewesen wäre, folgten wir ihm in die ungewisse Tiefe. Unsere offenbar verwehten Aufstiegsspuren fanden wir nicht mehr, doch tröstete uns zur Linken das Felsband, das uns im Aufstieg geführt hatte. Wir folgten ihm sorglos und ganz dem Genuss der leichten Schwünge und Schussfahrten ergeben. Inzwischen war es heiss geworden; die Sonne stach senkrecht durch den Nebel, und kein Lüftchen regte sich. Wir wähnten uns bald in der Höhe der Felslücke, die uns in die Hänge des Rosenlauitales führen sollte. Im Nebel konnten wir über uns eine solche Scharte des Felsbandes erkennen, zu der wir aufstiegen. Gross war unser Erstaunen, als wir über einen gewaltigen Absturz in unbekannte Täler blickten. Ueber und zeigte das Felsband keinen Unterbruch mehr, wohl aber etliche 100 Meter weiter unten. Etwas zweifelnd setzten wir unsere Fahrt dorthin fort und tauchten bald wieder in den Nebel. Da wir die Hoffnung auf unsere Aufstiegsspur noch nicht aufgegeben hatten, fuhren wir weit in den Hang hinunter um ergebnislos wieder in die zweite Lücke aufzusteigen. Langsam dämmerte es in uns auf, wir könnten uns „verfranzt“ haben. Zu einer so einfachen Tour hatten wir weder Karte noch Kompass mitgenommen. Die Uhr als elementarer Ersatz für den Kompass, konnte sich mit der durch den Nebel blinzelnden Sonne auf keine Himmelsrichtung einigen. Wohl aber mahnte sie uns daran, dass die Zeit beim Suchen rasch vergeht, und dass wir uns schon tief im Nachmittage befanden. Um einem Schneebiwak auszuweichen, entschlossen wir uns nach Möglichkeit in die Tiefe vorzustossen und folgten dem Schatten des Felsbandes durch den schwer und nass gewordenen Schnee. In mühsamen Schwüngen gelangten wir in ein enges Tal , das immer steiler wurde und zuletzt in einer senkrechten Wand endigte. Unser Felsband zur Linken verlief in einer Wand felsiger Krachen und rechts wurden die Hänge immer steiler um dann senkrecht zu einer Alp abzufallen, auf der einige tief verschneite Hütten standen. Schon fühlten wir uns erlöst, denn wo Hütten sind ist auch ein Weg. Die Ski wurden auf dem Rucksack befestigt und mit grösster Vorsicht Stufen schlagend, folgten wir einer steilen Rinne in die Tiefe. Es war dies ein heikles Stück Arbeit, doch haftete der Schnee noch gut auf der Unterlage. Bald erreichten wir den Alpboden und verzogen uns rasch aus dem Lawinenbereich. Erleichtert atmeten wir auf, denn der Nebel war gestiegen, der Himmel bewölkt, die Sicht besser. Da auch der Schnee besser wurde, fanden wir die Freude am Skifahren wieder und strebten hoffnungsvoll talauswärts. Am Talausgang fanden wir ein kräftiges Bächlein, das sich seinen Weg durch steile Waldhänge suchte. Ueber gewagte Schneebrücken folgten wir dem Bächlein in eine enge Schlucht, doch alsbald verspottete es uns, stürzte sich ins Leere um sich einige hundert Meter tiefer auf einer grossen Alp zu sammeln und schadenfroh weiterzuplätschern. Es war schon 6 Uhr und wir fühlten uns müde, umsomehr als wir in der grauen trüben Landschaft kein bekanntes Gebilde erkennen konnten, das uns über unsere Lage aufgeklärt hätte. Wir mussten die Alp unter uns auf einem Umweg zu erreichen suchen. Mühsam stiegen wir einen den Abgrund begrenzenden Waldrücken hinauf bis uns ein jäher Felsschwung den Weg versperrte!! Wir holten aufwärts noch mehr aus und waren nach einer Stunde wieder über der Waldgrenze auf einer schönen grossen Alp, eine kleine Schussfahrt höher als diejenige, welche wir mit dem Bächlein verlassen hatten. Nun hatten wir genug, sahen aber gleichzeitig ein, dass damit wenig geholfen ist. Alte Spuren im Eise reizten uns, den Weg weiter zu suchen, umso mehr da wir nichts zu essen hatten!! Wir verfolgten den oberen Rand des Absturzes weiter und fanden nach kurzer Zeit wirklich den sanften Abhang zum unteren Boden.

 

Die Hoffnung gab uns neue Kräfte und wir fegten förmlich hinunter bis zum spöttischen Bächlein, das alsbald im Wald verschwand. Dankbar sandten wir einen letzten Blick zu den überwundenen Hindernissen zurück, dann folgten wir in oft gehemmter Fahrt den Windungen des Bächleins im Walde. Bald fanden wir eine freundliche Lichtung, die der Schneegrenze schon ziemliche nahe sein musste. Am Rande der Lichtung hielten wir an und unsere Herzen auch!!! Der Dreckbach stürzte sich in einen neuen Abgrund, um tief unten im schneefreien Tal wieder zu erscheinen. Weit im Hintergrund grüsste uns ein Zipfel des Brienzersees. Endlich erkannten wir unsere Lage. Wir hatten uns beim Start in der Richtung um 180 Grad getäuscht und hatten mit viel Glück und etwas guter Nase einen Weg durch die nördlichen Abstürze des Wildgerst gefunden. Vor allem galt es jetzt aus dem Gewirr der gegen den See abfallenden Felsstufen herauszukommen. Es war Abend geworden, aus weiter Ferne schimmerten die Lichter von Brienz, als Inbegriff heimeliger Wärme. Den Abgrund unter uns konnten wir nicht überwinden, also erklommen wir in östlicher Richtung mühsam eine Waldrippe um eine grosse Ebene zu erreichen, die wir beim ersten Bachsturz tief links erblickt hatten. Es standen dort mehrere Alphütten, und wir hatte die berechtigte Hoffnung, am anderen Tag den Abstieg zu finden. Mit beinahe der letzten Kraft erreichten wir die erste Hütte, eine Käsestelle mit viel trockenem Holz. Die Nacht versprach kalt zu werden, weshalb wir ein kräftiges Feuer inszenierten. Durch den Tempereturwechsel wurde es zweien von uns schlecht, was die allgemeine Laune nicht gerade verbesserte. Bei einer Büchse Sardinen, einer Orange und einer Büchse heissem Schneewasser erwachten die Lebensgeister teilweise. Sogar der alte Humor flackerte zeitweise wieder auf. Trotz grossem Feuer wurde es bei der klaren Nacht immer kälter, sodass wir uns wie ein Huhn am Spiess um die eigene Achse drehen mussten um nicht einseitig zu erfrieren, resp. zu verkohlen. Die Nacht war lang und wir gelobten uns, nie mehr ohne Karte und Kompass auszuziehen!!!

 

Als der langersehnte Morgen anbrach, wurde das Morgenessen supponiert, und alsbald setzten wir unsere Irrfahrt talwärts fort. Nach erfolglosem Lavieren bis zum westlichen Rande der Hochebene war der Ochs am Berg und unsere Geduld wieder erschöpft. Unsere eigensinnig knurrenden Mägen vervollständigte das Bild unserer Lage. In wunderbarer Pracht entfaltete sich der jung Tag, doch wir sahen es nicht. Andereggs Instinkt gab ihm plötzlich einen erleuchtenden Gedanken ein, wir folgten ihm durch eine nach Osten leicht geneigte Rinne, fanden eine Lichtung, die sich sanft gegen das Tal neigte und unten, ist das eine Fata morgana oder Wirklichkeit?…eine frische Spur!! Eine Skispur von gestern. Plötzlich war die Welt wunderschön, der Morgen klar und freundlich und in stiebendem Pulverschnee sausten wir durch Waldschneisen und Lichtungen abwärts. In der Felswand fanden wir einen schmalen Pfad, der uns ins untere Tal führte, und von da weiter der rettenden Spur nach. Unser reizvoller Morgenspaziergang über die Axalp zum Brienzersee gehört eigentlich nicht mehr zum alpinen Teil der Expedition, ebensowenig wie das allgemein bestaunte Pantagruel’sche Frühstück in Meiringen. Auf der Karte konnten wir unsere Variante leicht rekonstruieren. Es handelt sich unbedingt um eine neue Route. Wären wir den ersten Alpstufen östlich gefolgt, hätten wir mit Leichtigkeit den Weg nach Meiringen gefunden. Doch liessen wir uns vom Geiste des Bächleins irreführen…… Und als Prisi mit mir am folgenden verregneten Sonntag in den Urneralpen herumstolperte, wollte ich an Hand der Karte die umliegenden Gipfel bestimmen; doch wir hatten die Karte vergessen!!!! Bei so einfachen Touren braucht man sie übrigens nie!

  • Text: Hans Zürcher
  • Datum: Palmsonntag (wahrscheinlich 1938), 9.-10. April 1938
  • Transkription: Fred Stumm